Großwohnsiedlungen.
Wo die meisten Einwohner der ehemaligen UdSSR leben
Autor*innen: Tinatin Gurgenidze, Alexander Formozov
Bis zu 50% der Stadtbewohner*innen in den postsowjetischen Ländern leben derzeit in Großwohnsiedlungen sowjetischer Bauart (GWS), die häufig an der urbanen Peripherie entstanden waren, oder in sogenannten ‚Mikrorajons'. Charakteristisch für solche GWS sind heute problembehaftete und polarisierende Entwicklungsprozesse. Dem fortwährenden Verfall und drohendem Kollaps von Infrastrukturen (Versorgung, Mobilität), Wohngebäuden und Freiräumen einerseits stehen die rasanten, zerstörerischen wie elitären Nachverdichtungen (Wohnen, Shopping-Malls) andererseits gegenüber. Beide Tendenzen beeinträchtigen grundlegend die Lebensqualität der Quartierbewohner. Sie gefährden die Kohäsion in der Bevölkerung und stehen nachhaltiger Stadtentwicklung entgegen. Trotzdem schenken Politik und Stadtverwaltungen in den postsowjetischen Ländern diesen Entwicklungen kaum Aufmerksamkeit.
1950
1989
Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und sozialistischer Länder waren Plattenbausiedlungen seit den 1950er Jahren einerseits Mittel der Regierungen, der Wohnungsnot zu begegnen, und standen so in einer langen Tradition der Wohnungsgroßbauprojekte. Auf der anderen Seite dienten sie auch den sozialistischen Motiven einer raschen Urbanisierung. Von 1956 bis 1991 wurden allein in Russland (RSFSR) bis zu 17 Millionen Wohnungen in GWS gebaut. So lebten in der Sowjetunion Mitte der 1980er Jahre etwa 2/3 der Bevölkerung in Städten, 85% davon in Großwohnsiedlungen. ‚Mikrorajons' – wörtlich: Mikro-Quartiere – die aus Wohnblöcken von 5,000 bis zu 10,000 Einwohnern bestanden, waren eine der fundamentalen städtischen Planungseinheiten in der UdSSR. Jeder ‚Mikrorajon' sollte mit erforderlichen Infrastruktureinrichtungen ausgestattet werden, wie Kindergärten, Schulen, Lebensmittelgeschäfte und einigen öffentlichen Institutionen, wie ein Kino oder eine Bibliothek.
nach 1989
Die Systemtransformation nach 1989 hat die Situation in den GWS verändert, und die nach sowjetischen Regelungen und Normen geplanten Großsiedlungen in eine neue Realität versetzt. Vor allem der Übergang zur Marktwirtschaft hat die Situation in den GWS sehr stark beeinflusst. In vielen Ländern wurden fast alle Wohnungen von den Bewohner*innen privatisiert. In Georgien (Tbilisi) und Armenien hat es zudem eine unkontrollierte Anbautätigkeit ausgelöst, bei der einzelne Wohnungen nach außen hin sichtbar erweitert wurden.
Insgesamt fehlen in postsowjetischen Ländern bislang klare Strategien der Stadtentwicklung, die eine systematische Revitalisierung und Sanierung der GWS beabsichtigen. Die bislang einzige koordinierte Strategie in Russland – sieht eine radikale Lösung durch Abriss vor. Das Interesse der Politik und anderer gesellschaftlicher Akteure an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema GWS ist gering.

Laut übereinstimmender Aussage mehrerer Expert*innen werden die osteuropäischen GWS bisher von den lokalen Experten-Communities, Gesellschaft und Politik zu wenig beachtet. In den Partnerländern fehlt meist das gesellschaftliche Bewusstsein, Experten-Wissen (u.a. technische, statistische und demographische Daten), sowie das politische Interesse in Bezug auf langfristige Lösungen. Es fehlt zurzeit an Praxis-Forschung zu Peripherie-Prozessen in wachsenden wie schrumpfenden osteuropäischen Städten und ein regionaler sowie transnationaler interdisziplinärer Expertendialog über erfolgreiche Herangehensweisen, Road Maps usw. Dabei ist hier der Nutzen des Austausches besonders evident: Osteuropäische GWS wurden einst nach einheitlichen Prinzipien errichtet und weisen deshalb häufig auch heute noch ähnliche Problemlagen auf.

Gleichzeitig befindet sich nach Einschätzung von Expert*innen (in der Ukraine und Georgien) über 95% des privaten Wohneigentums in GWS in benachteiligten und vernachlässigten Wohnblöcken, die in einem schlechten technischen Zustand sind und keine institutionalisierte Hausverwaltung haben. In einer Perspektive von 10-15 Jahren wird ein Großteil davon an Belastungs- und Abnutzungsgrenzen stoßen, wenn nicht früher koordinierte Sanierungsmaßnahmen ergriffen werden.
Alexander Formozov
Tinatin Gurgenidze